Kristin Gehm (Mitarbeiterin in der Montag-Stiftung „Urbane Räume“);
Karl-Heinz Imhäuser (Vorstand der Montag-Stiftung „Jugend und Gesellschaft")
Anlass des Besuchs war die Aufnahme und Beschreibung der neuen Grundschule Welsberg für die Beispielsammlung „Lernräume aktuell“ der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft und Montag Stiftung Urbane Räume. In ihr werden besonders gelungene Beispiele von Bildungsbauten im Sinne Pädagogischer Architektur porträtiert und anderen als Anregung und Inspiration über das Internet zugänglich gemacht.
Wie haben wir die Schule erlebt:
Nähert man sich dem Gebäude, fallen bereits von Außen die großen Fenster auf und lassen erste Einblicke zu. Der Haupteingang ist klar erkennbar und man weiß sofort, wo man hin muss.
Und Fenster, Fenster, Fenster, die Landschaftsausblicke zulassen, so dass man zwischen äußerer Weltlandschaft und innerer Lernlandschaft hin- und her gerissen den Blick schweifen lässt.
Schon beim Eintritt in das Schulgebäude ist das erste sehr gelungene Moment wahrnehmbar:
zwei Garderobenräume, erschlossen durch eine separate Eingangstür, in denen die Schülerinnen und Schüler ihre Straßenschuhe, Jacken und Mäntel ablegen können, um von hier aus mit Hausschuhen ihr Schulhaus zu betreten. Diese Organisation der sonst in Fluren und Klassenräumen zu verstauenden Kleidungsgegenstände gibt einen ersten Hinweis auf die Funktion des Gebäudes: kein Aufenthalt auf Zeit, in der man seine Utensilien für einen jederzeit möglichen Aufbruch in der Nähe weiß, sondern ein Lern- UND Lebensraum, in dem diese Dinge wie in einer häusliche Gardarobenordnung im Eingangsflur ihren Platz haben, um die Wohnräume davon zu entlasten.
Der einladende Treppenaufgang, auf den der Blick direkt nach Betreten des Gebäudes fällt, ist ein starker Impuls, der den Besucher, ausgelöst durch die große Fensteröffnung am oberen Treppenabsatz, nach oben in die Lernlandschaft hinaufzieht.
Kommt man oben an, öffnet sich ein faszinierender Blick auf einen offenen und doch gegliederten, übersichtlichen Großraum, Lernwerkstatt genannt, und diesen Namen trägt sie zu Recht: Bücher, mobile Regale und Tische und mittendrin Kinder, da und dort allein, zu zweit, in Gruppen, mit und ohne Betreuerin lernend sowie offen stehende Türen, die Blicke in die Klassenräume gewähren.
Die ursprünglichen Fensterbänke wurden so gestaltet, dass sie als Sitznischen dienen. Es sind tief heruntergezogene und nahe des Fußbodens liegende hölzerne Bänke, ausgestattet mit Kissen, die einladen, sich in die Fensterlaibung zu setzen – ein Zauber, dem man sich nicht entziehen kann.
Die breiten Fensterrahmen sagen ohne Worte: Hier hast du einen Ort zum Verweilen und Genießen, zum Beobachten, zum Nachdenken.
Und es ist zu vermuten: auch zum Lernen!
Wandert man weiter durch die offen stehenden Klassentüren in die Klassenräume, die schon durch ihre großen Fenster zu den Lernwerkstätten signalisieren, hier kannst du Einblick und Ausblick nehmen, staunt man, weil man sofort sieht: Hier fehlt das klassische Zentrum der Ausrichtung, nämlich das Lehrerpult und die zentrale Tafel.
Stattdessen findet man die Einrichtung und das Mobiliar des flexiblen Klassenzimmmers, und das ist offenbar Programm: Zentrum ist da, wo gerade gelernt wird, am Tisch, an der Tafelwand, in einer Nische oder einer Ecke, wo Tische oder Tischgruppen zusammengestellt sind, auf Zeit – so lange es eben dauert das zu tun, was man gerade im Begriff ist zu tun, nämlich zum Beispiel Zahlen oder Buchstaben zu betrachten oder, oder, oder… .
Aber das gleiche ist auch außerhalb des Klassenzimmers möglich, nämlich draußen in der Lernwerkstatt – oder ist das auch drinnen? Und das ist das faszinierende: Draußen und drinnen vermischen sich zu einer gemeinsamen Raumeinheit.
Was uns gefallen hat?
Das Auflösen und Neukonfigurieren dessen, was Lernraum genannt werden kann: Beweglich stets im Wandel, weil wandelbar und anpassungsfähig!
Und dass diese Schule so gelungen ist, obwohl der Weg dorthin kein Spaziergang war, sondern eines langen Atems bedurfte, sowohl auf Seiten der Pädagogen der Schule, der Kommune und des Architekturbüros.
Im gemeinsamen Gespräch wurde deutlich, dass es des Engagements und der Dialogfähigkeit jedes einzelnen bedurfte. Die Würdigung der Menschen, die das Ergebnis gemeinsam verantworten, soll hier ebenfalls Erwähnung finden. Guter Schulbau ist da, wo er entsteht, ein Ergebnis mühsamer (aber wie man sieht lohnender!) Aushandlungsprozesse.
Bemerkenswert ist ebenfalls, dass sich die Pädagogen – nun, wo der architektonische Rahmen steht – diese Voraussetzungen aneignen, dass sie sich mit der zur Verfügung stehenden vorbereiteten Umgebung auseinandersetzen und sie so nutzen, dass Besucher wie wir den Eindruck von Mühelosigkeit in der Bespielung und Nutzung der Räume wahrnehmen.
Herr Watschinger, wie sind Sie zum Thema "Pädagogische Architektur" gekommen?
Vor etwas mehr als 15 Jahren haben wir im Pustertal eine stufenübergreifende Arbeitsgruppe gebildet, um uns gemeinsam Gedanken zu machen, wie sich Schule verändern müsste, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Wir haben in dieser Arbeitsgruppe ein Konzept einer aus unserer Sicht innovativen Schule entworfen und haben dabei immer wieder festgestellt, dass die schulischen Räume und das Mobiliar, so wie sie beschaffen sind, das behindern, was an Neuem im Entstehen ist.
So haben wir uns mit der Fakultät für Architektur der Universität Innsbruck zusammengetan, um Ideen zu suchen, wie unser Schulkonzept räumlich gestaltet werden könnte. Die Arbeiten der Studenten
– Ergebnisse, intensiver Dialoge mit uns Pädagogen – haben spannende und überzeugende Ideen geliefert. Wir haben gemerkt, dass die Kraft des Raumes für das Lernen in Zukunft noch mehr genutzt
werden muss.
Diese Studien wurden damals vom Amt für Hochbau wohlwollend begleitet. Arch. March hat als kritischer Freund im Rahmen der Präsentationen die Ergebnisse kommentiert und gewürdigt.
Herr Watschinger, ist das Thema „Pädagogische Architektur“ dann nur ein Thema für eine besondere Schule?
Nein, keinesfalls! Im Jahre 2000 haben die Schulen die Autonomie erhalten. Die Schulen haben damit den Auftrag erhalten, sich im Rahmen der gesetzlichen Richtlinien aus sich heraus zu gestalten und die Ergebnisse zu verantworten. Mit dem Schulautonomiegesetz hat die Schule die Verpflichtung bekommen, das zu leben, was sie hervorbringen will. Die Schule hat die Aufgabe, ein eigenes pädagogisches Profil zu entwickeln und dieses bekannt zu geben. Und dieses pädagogische Profil muss sich natürlich an den wesentlichen Aussagen der Bildungsgesetze orientieren. Diese fordern die Individualisierung und Personalisierung des Lernens ein. Jedes Kind/jeder Jugendliche soll die Möglichkeit bekommen, seine individuellen Potentiale zu entfalten. Die Schule muss in ihrer Arbeit auf den Erwerb von Kompetenzen fokussieren. Natürlich geht es auch darum, systematisch eine Art Grundausstattung aufzubauen – damit meine ich Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten – Schule muss aber zunehmend mehr gute Aufgaben stellen, in denen sich diese Elemente der Grundausstattung funktional und kreativ vernetzen können, um zu Lösungen zu kommen. So entstehen allmählich Kompetenzen, die auf Grund von erweiterten Anforderungen immer komplexer werden. Und diese Schule darf nicht ausschließlich eine Belehrungsschule sein. Diese Schule muss eine Art große Werkstatt sein, in der Kinder und Jugendliche Aufgaben finden bzw. bekommen, die sinnvoll sind und die herausfordern. Kurz: Wir haben die Aufgabe, unsere Belehrungsanstalten in „Werkstätten des Lernens und Lebens“ zu verwandeln. Klar haben in diesen Werkstätten auch Einführungen und Momente der frontalen Vermittlung ihren Platz, aber nicht einen ausschließlichen. Diesen Herausforderungen müssen sich alle Bildungseinrichtungen stellen. Damit ist das Thema des guten Lernraumes ein Thema, das alle betrifft.
Die neuen Schulbaurichtlinien tragen diesem neuen schulischen Bedarf Rechnung. Wie sehen Sie das?
Die neuen Schulbaurichtlinien – um die wir im Ausland beneidet werden – sind stimmig zum Schulautonomiegesetz und schaffen Möglichkeiten, dass Kindergärten und Schulen Lebens- und Lernräume erhalten, die den ganz eigenen pädagogischen Profilen entsprechen und den Aufbau einer erweiterten Lernkultur unterstützen. Mit dem „Organisationskonzept mit pädagogischer Ausrichtung“, das von den Kindergärten und Schulen erstellt werden muss, die an eine Sanierung bzw. an einen Neubau denken, werden die Orientierungspunkte für die Planung eingefordert. Die Tatsache, dass die zur Verfügung gestellte Gesamtfläche, die über klar vorgegebene Richtzahlen berechnet wird, flexibel gehandhabt werden kann, schafft die Möglichkeit, dass die Kindergärten und Schulen auch ganz eigene Raumgefüge erhalten können. Kindergärten und Schulen dürfen eine ganz eigene Identität entwickeln. Natürlich müssen dahinter tragfähige Konzepte stehen, die längerfristig angedacht sind, damit baulich nicht ständig nachgebessert und korrigiert werden muss.
Wir haben in unserem Lande viele neue Kindergärten und Schulen, die nach den traditionellen Konzepten gebaut sind. Müssten diese Kindergärten und Schulen angepasst werden?
Unser Land hat wirklich viele neue und wunderschöne Kindergärten und Schulen. Die allermeisten sind hochwertig gebaut. Es sind Bauten, die die Menschen, die dort arbeiten und lernen, wertschätzen. Die Qualität dieser Bauten bringt zum Ausdruck, welchen Stellenwert Bildung in unserem Lande hat. Kaum ein Land in Europa hat in der Breite so hochwertige und gut ausgestattete Bildungshäuser. Natürlich sind die allermeisten nach den traditionellen Konzepten gebaut. Es ist aber auch so, dass die allermeisten Kindergärten und Schulen noch nach den traditionellen Mustern arbeiten. Erst allmählich stellen unsere Bildungseinrichtungen sich um. Es ist möglich, mit kleinen und vor allem kostengünstigen Eingriffen, Kindergärten und Schulen räumlich und von der Ausstattung her auf das neue schulische Geschehen umzurüsten. Wir werden uns in Zukunft noch mehr Gedanken machen müssen, wie wir die traditionellen Raummuster mit einer zeitgemäßen Pädagogik bespielen. Dazu müssen wir unsere Lernhäuser nicht neu bauen. Kindergärten und Schulen müssen sich aber zunächst aus sich heraus in Bewegung setzen und ihre eigenen pädagogischen und organisatorischen Konzepte schreiben und entwickeln. Wichtig wäre für mich, vor allem neue Kindergärten und Schulen bzw. solche, die saniert werden, offener und bespielbarer zu gestalten. Mit Häusern, die auf die reine Belehrung hin ausgerichtet sind, zementieren wir Konzepte, die überholt sind.
Gibt es Beispiele in Südtirol, wo Schulhäuser mit kleinen Eingriffen auf erweiterte Konzepte umgestellt wurden?
Wir haben vor kurzem die Grundschule Pichl einer Metamorphose unterzogen. Wir haben die fünfklassige Schulgemeinschaft in 2 Lerngemeinschaften geteilt. Jede Lerngemeinschaft hat einen Raumcluster erhalten. Zentrum des Clusters bildet eine große Lernwerkstatt, an die die Klassenräume andocken. Dazu wurden einige Zwischenwände entfernt und es wurden Sichtverbindungen zwischen den Klassenräumen und der Lernwerkstatt geschaffen. Im Eingangsbereich wurde eine Zentralgarderobe eingerichtet. Unsere Flure wurden damit zu hochwertigen Lernräumen umfunktioniert. Die Gemeinde hat uns für diese Anpassung 50.000 € zur Verfügung gestellt. Diese Anpassung wurde im Laufe des Sommers durchgeführt.
Aber auch allein mit der gezielten Auswahl von Mobiliar lässt sich das Innenleben jedes Kindergartens und jeder Schule verändern. Wichtig ist aus meiner Sicht, mehr Flexibilität zu erzeugen.
Herr Watschinger, was sind aus Ihrer Sicht die großen Herausforderungen für die Zukunft in Sachen Lernen und Raum?
Die größte Herausforderung ist mit Sicherheit jene, dass Kindergärten und Schulen innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Rahmen Verantwortung übernehmen für die Weiterentwicklung ihrer Institutionen zu Häusern des Lernens, zu Häusern, in denen sich junge Menschen lebenstüchtig machen. Der innere Umbau kann nicht von Außen vorgenommen, wohl aber gestützt werden. Und dieser innere Umbau wird begleitet sein von der Erkenntnis, Rahmenbedingungen ändern bzw. neu schaffen zu müssen. So wird auch das Thema des Raumes ein wichtiges Thema werden. Dann ist es wichtig, Verständnis auf allen Ebenen dafür vorzufinden und auf die Bereitschaft zu treffen, die Sache im Dialog anzugehen. Es ist wichtig, auf Erfahrungen und Beispiele guter Praxis zugreifen zu können und eine gute Beratung bzw. Prozessbegleitung zu erhalten. Zu diesem Zwecke ist vor kurzem das Netzwerk „lernen&raum“ gegründet worden. In diesem Netzwerk liegt ein großes Potential, die Beziehungen zwischen Lernen und Raum zu erforschen und Kindergärten und Schulen zu guten Ergebnissen zu verhelfen.